In großen Prozessionen ziehen die Bürger des antiken Athens auf den Hügel der Akropolis. Die prächtigen Heiligtümer bilden den Schauplatz für mitreißende Feste. Die Menschen legen Geschenke an den Altären nieder und vollziehen blutige Opfergaben. Lebensnahe, aus Marmor und Bronze gefertigte Skulpturen von Helden und Göttern umgeben die feiernde Gemeinschaft.
Die Feste führten die Mythen Athens eindrücklich vor Augen und hielten sie am Leben. Geschichten von rachsüchtigen Göttern, mächtigen Königen, furchtbaren Kriegen und tragischen Opfern begleiteten die Athener durch das ganze Jahr. Die Mythen rankten sich um die Vergangenheit der Stadt und prägten das Selbstverständnis ihrer Bewohner.
Athena, die Schutzpatronin der Stadt, und ihr Sohn Erechtheus wurden besonders verehrt. Die wichtigsten Tempel auf der Akropolis, der Parthenon und das Erechtheion, waren ihnen geweiht. Noch heute lässt sich die Pracht der einst glanzvollen Architektur erahnen.
Die beeindruckenden Heiligtümer entstanden im Rahmen eines gigantischen Bauvorhabens. Ins Leben gerufen wurde es um 450 v. Chr. von dem Politiker Perikles. Die Vorgängerbauten waren von persischen Truppen dem Erdboden gleichgemacht worden. Gemeinsam mit dem Bildhauer Phidias entwickelte Perikles ein ehrgeiziges Konzept für den Wiederaufbau: Jeder Tempel, jeglicher Bauschmuck und jede Skulptur sollte der Bevölkerung Athens ihre Kultur und Geschichte lebhaft vor Augen führen.
Die Ausstellung im Liebieghaus lädt zu einer Reise in das alte Athen mit seinen bildgewaltigen Mythen und berauschenden Festen ein. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungen und Thesen erscheinen die Heiligtümer der Akropolis in einem neuen Licht.
Die Zerstörung der Akropolis
Zehntausende Soldaten landen am Strand von Marathon. Der persische König Dareios I. hat sein Heer um 490 v. Chr. in Richtung Athen entsandt, um die Stadt zu zerstören.
Die Bewohner Athens sahen sich mit einer gewaltigen militärischen Übermacht konfrontiert. Doch nahm die Schlacht eine überraschende Wendung: Sie errangen zunächst einen haushohen Sieg über ihre Feinde.
Zehn Jahre später starteten die Perser erneut einen groß angelegten Angriff auf die Stadt, auch um sich für die Niederlage von Marathon zu rächen.
Schwarzer Rauch weht nach dem verheerenden Angriff der Perser über Athen. Die Stadt und die Heiligtümer auf der Akropolis liegen in Schutt und Asche. Die Stadtbewohner sind auf die Halbinsel Peloponnes geflohen.
Unter der heftigen Zerstörungswut des wiederholten Großangriffs der Perser hatte die Stadt Athen schwer gelitten. Die Athener setzten sich zur Wehr. In der Seeschlacht von Salamis schlugen sie ihre Angreifer zurück. Bis 479 v. Chr. gelang es, die Perser ganz aus Attika zu vertreiben. In der Folgezeit stieg Athen zur vorherrschenden Seemacht in Griechenland auf.
Nach der Rückkehr in ihre Heimat begannen die Athener – zunächst zögerlich – mit dem Wiederaufbau. So gingen viele Jahre ins Land, bis die Akropolis in neuem Glanz erstrahlte.
Ein gigantisches Bauprojekt
Die zerstörte Akropolis hielt bei den Athenern die Erinnerung an die Zeit der Vertreibung wach. Eine ganze Generation blieb nach dem Angriff traumatisiert zurück. Wahrscheinlich erlebte auch der Politiker Perikles in seiner Jugend die Verwüstung.
Perikles wurde zu einem der einflussreichsten Politiker in der attischen Demokratie. Mit großer Redegewandtheit sicherte er sich die Unterstützung der Bevölkerung für den Wiederaufbau der Akropolis. Aber nicht nur seine Überzeugungskraft war Grundlage für seinen erstaunlichen Erfolg. Perikles konnte sich auch auf den Reichtum der Großmacht Athen stützen.
Infolge der Perserkriege hatten sich mehrere griechische Städte gegen die Perser – den gemeinsamen Feind – im Attischen Seebund zusammengeschlossen. Gelder, die von den Verbündeten zu Verteidigungszwecken gezahlt wurden, sorgten für die kulturelle Blüte in Athen.
Gemeinsam mit dem Bildhauer Phidias plante Perikles das bildgewaltigste Bauprojekt aller Zeiten. Die Akropolis soll zu einem Symbol für den Triumph der Stadt werden.
Ein Mythos erwacht zum Leben
Die Bedeutung des neuen Bildprogramms der Akropolis gibt Rätsel auf. Zahlreiche Ansätze versuchen die Darstellungen zu entschlüsseln.
Welche Bildergeschichten sind auf dem berühmten Parthenonfries zu sehen? Das 160 Meter lange Reliefband zieht sich um den gesamten Parthenontempel. Dargestellt sind unterschiedlichste Feste im Zyklus des attischen Kalenders.
Dem Kopf
entsprungen
Im Zentrum der Bildergeschichten steht die Göttin Athena. Bereits ihre Geburt ist ein außergewöhnliches Ereignis.
Athenas Vater Zeus ist der Herrscher des Olymps. Seine zahlreichen Liebschaften führen oft ins Verhängnis. Er betört die Nymphe Metis, die schwanger wird. Sie erwartet einen Sohn und eine Tochter. Dem werdenden Vater wird geweissagt, dass sein Sohn ihm die Herrschaft streitig machen würde. Daraufhin frisst Zeus seine Geliebte samt den beiden ungeborenen Kindern. Furchtbare Kopfschmerzen beginnen ihn zu plagen. In seiner Not wendet er sich an den Schmiedegott Hephaistos, der mit einer schweren Axt den Kopf von Zeus spaltet. Die anwesenden Götter staunen nicht schlecht, als Athena in voller Rüstung kampfbereit herausspringt.
Die jungfräuliche Göttin Athena
Als Zeus seine Geliebte verschlingt, wandert der Fötus der ungeborenen Tochter in seinen Kopf und wird schließlich aus diesem geboren. Metis, die Weisheit, muss sterben. Doch werden ihre Intelligenz und ihr Geist in Gestalt der Tochter bewahrt. Athena ist die Schirmherrin der Künste und Wissenschaften, aber auch Göttin der Strategie und des Kampfes. Die ewig jungfräuliche Schönheit trägt bereits bei ihrer Geburt eine Rüstung.
Kampf der Götter
Ein Wettstreit um die Schirmherrschaft über Athen entbrennt zwischen der ehrgeizigen Athena und ihrem Onkel, dem aufbrausenden Meeres- und Pferdegott Poseidon.
Gewinnen soll derjenige, der dem Land Attika und seiner Stadt das bessere Geschenk macht. Poseidon stößt seinen Dreizack in den Boden, woraufhin eine Quelle hervorsprudelt. Athena pflanzt einen Olivenbaum, der wertvolles Olivenöl und Holz liefert – ein Geschenk, das von den Bewohnern Attikas aufmerksame Pflege erfordert. Die Götter küren Athena zur Siegerin. Schäumend vor Wut überflutet Poseidon das Land.
Den Kampf zwischen Athena und ihrem Onkel führen ihre Söhne fort: Eumolpos unterstützt den Anspruch seines Vaters Poseidon auf den Besitz Attikas.
Sein Gegenspieler ist Erechtheus, der König von Athen und Sohn Athenas. Wie war es aber möglich, dass die jungfräuliche Göttin einen Sohn hatte?
Ein König wird geboren
Als der Schmiedegott Hephaistos für die schöne Athena eine neue Rüstung anfertigen soll, nutzt er die Gelegenheit für seine Avancen. Doch lässt ihn die jungfräuliche Göttin abblitzen. Mit einem Stück Wolle wischt sie sein Sperma von ihrem Oberschenkel und wirft es auf die Erde.
Die Erdgöttin Gaia wird mit dem Samen von Hephaistos befruchtet. Neun Monate später bringt sie Erechtheus zur Welt. In einem Wickeltuch, dem Peplos, überreicht sie Athena ihren Sohn.
Die Geschichte Erechtheus’ bildete die Grundlage für den wichtigsten Kult der Athener. Erechtheus ist vorbestimmt, die Herrschaft über Athen und das attische Umland zu übernehmen. Sein Ahne, der schlangenleibige Urkönig Kekrops, ist wie Erechtheus aus der Erde geboren.
Kekrops verkörpert die Vorstellung der Athener, ein ursprüngliches, alteingesessenes Volk ohne Vorfahren zu sein. Das Sinnbild der in Felsspalten und Höhlen hausenden Schlange steht für den gemeinsamen Ursprung aller Athener als Erdgeborene.
Eine glückliche Kindheit
Erechtheus wird von Athena großgezogen. Für ihren Ziehsohn errichtet sie der Legende nach ein stattliches Haus: das Erechtheion.
Auf der Akropolis gab es tatsächlich eine alte Kultstätte. Sie wurde während der Perserkriege zerstört. Im Rahmen ihres Bauprogramms planten Perikles und Phidias an dieser Stelle den bei Weitem prachtvollsten Bau auf der Akropolis.
Ein langes skulpturales Band schmückte das Erechtheion. Reste der Figuren aus einst bunt bemaltem Marmor sind bis heute erhalten. Sie erzählen vom glücklichen Leben der Nachkommen Athenas: Ein Knabe sitzt auf dem Schoß seiner Mutter oder Amme. Zwei Kinder widmen sich gebannt ihrem Würfelspiel.
Poseidons Rache
Erechtheus wächst zum König von Athen heran. Er heiratet Praxithea, mit der er sechs Töchter hat. Das Familienglück ist jedoch nicht von Dauer, denn Poseidon plant seine große Rache.
Um seine Erniedrigung im verlorenen Wettstreit mit Athena endgültig zu rächen, schickt er seinen Sohn Eumolpos gegen Athen. Der König des wilden Volkes der Thraker zieht von der Stadt Eleusis aus mit seinen gewaltigen Truppen in den Kampf. Der kriegerische Schachzug Poseidons gipfelt im eleusinisch-attischen Krieg. Im Namen seiner Mutter verteidigt Erechtheus die Athener und ihre Stadt.
Die Krieger von Riace
Die zwei Meter großen Statuen stellen Erechtheus und Eumolpos, die Gegner im eleusinischen Krieg, dar. Vielleicht standen sie einst auf der Akropolis, um an die Geschichte des finalen Kampfes zu erinnern.
Bei der Untersuchung der Bronzefiguren machte der Kurator Vinzenz Brinkmann eine erstaunliche Entdeckung:
„Bei dem Tempel der Athena […] befinden sich Bronzestatuen von Männern, die zum Kampf auseinandergetreten sind. Den einen nennen sie Erechtheus, den anderen Eumolpos.“
Reisebericht des Pausanias (um 115–180 n. Chr.), 1.27.4, übers. von Vinzenz Brinkmann und Ulrike Koch-Brinkmann 1
Ein grausames
Opfer
Die Athener können der Belagerung durch die Truppen von Eumolpos kaum standhalten. Erechtheus sucht verzweifelt Rat beim Orakel des Apoll, dem Retter der Kriegsnot.
Um als Sieger aus dem eleusinischen Krieg hervorzugehen, müssen Erechtheus und seine Frau Praxithea eine ungeheuerliche Entscheidung treffen: Sie folgen dem göttlichen Rat, die Erstgeborene ihrer sechs Töchter zu opfern.
„Ich liebe meine Kinder, doch mehr liebe ich meine Vaterstadt. […] Wer einen ehrenvollen Tod gestorben ist, den nenne ich eher lebendig als den, der ehrlos das Licht schaut.“
Auszug aus den Fragmenten der Tragödie „Erechtheus“ des Euripides: „Praxitheas Rede“ 2
Gemeinsam verlassen die Schwestern das Elternhaus. Mit Opferschalen in ihren Händen schreiten sie zur rituellen Jungfrauenopferung.
Diese Szene ist wohl an der Südseite des Erechtheion verewigt worden. Dort tragen sechs Mädchenfiguren das Dach der offenen Halle. In feine Gewänder gehüllt, erscheinen die schönen Töchter von Erechtheus und Praxithea.
Als die älteste Tochter auf dem Altar sterben soll, entschließen sich zwei weitere Schwestern, ihr in den Tod zu folgen. Die älteste Tochter opfert sich für die Rettung der Stadt und ihrer Bewohner. Dass sie weitere Kinder verlieren müssen, bricht den Eltern das Herz.
Vermutlich schmückten fein gearbeitete Schlangenarmreife die Arme der Skulpturen der Töchter. Sie verweisen auf die Herkunft der Jungfrauen, auf ihren erdgeborenen Vater Erechtheus, den König des attischen Volks. Im Glauben der Athener erscheinen Schlangen als Zeichen für den Übergang zwischen Leben und Tod.
Der Tod des Erechtheus
Durch das Jungfrauenopfer wendet sich das Kriegsglück zugunsten der Athener. Im Entscheidungskampf kann Erechtheus seinen Gegner Eumolpos besiegen und töten.
Der Zorn Poseidons über den Tod des Sohnes ist grenzenlos. In einem letzten Racheakt plant er mit der Hilfe seines Bruders Zeus die Vernichtung von Erechtheus. Zeus göttlicher Blitz lähmt den König von Athen. Poseidon spießt den erstarrten Körper mit seinem gewaltigen Dreizack auf. Mit voller Wucht rammt er ihn vor dem Eingang des Erechtheion tief in den Felsen der Akropolis.
Zum Zeichen der Erinnerung an den mythologischen Kampf fehlen im Fußboden der Halle vor der Nordseite des Palasts einige Platten. In der Decke darüber wurde absichtlich ein weiteres Loch frei gelassen: Dort soll der Legende nach der riesige Dreizack des Meeresgottes in den Boden eingeschlagen sein!
Opfer und
Versöhnung
Vom Dreizack des Poseidon getroffen, fällt Erechtheus in die dunklen Tiefen des mächtigen Felsens der Akropolis. Er lebt auf magische Weise in Gestalt einer riesigen Burgschlange fort. Der Erdgeborene ist ins Erdreich zurückgekehrt.
Die trauernde Athena findet Trost und Besänftigung in der Wiedergeburt ihres Sohnes. Gewalt und Opfer bilden die Grundlage für die Versöhnung zwischen den Widersachern Athena, Poseidon und Erechtheus. Um dem Frieden Ausdruck zu verleihen, entstand bei den Athenern die Vorstellung von einer Verschmelzung der einstigen Feinde. Die göttliche Kraft, die sich aus dieser Vereinigung entfaltete, wurde am Altar des Poseidonerechtheus im Zentrum des Erechtheion verehrt. Die Macht Athens ging aus dem Kampf dauerhaft gestärkt hervor. Durch die Aufnahme des Meeresgottes war auch der Anspruch Athens auf die Herrschaft über die Meere besiegelt.
Die mit ihr gestorbenen Schwestern reichen dem unsterblichen Erechtheus und dem göttlichen Poseidon Wein und Obst: eine idyllische Szene im Jenseits.
Die drei überlebenden Töchter von Erechtheus und Praxithea betrachten die friedfertige Szene. Sie halten sich bei den Händen und erinnern an das versöhnliche Ende der Geschichte, die mit dem Wettstreit zwischen Athena und Poseidon begann.
Geheimtipp
Die „Erechtheus“-Tragödie von Euripides
Als Pierre Jouguet und sein Team 1901 in Ägypten auf einem ehemaligen Friedhof mehrere Mumien finden, ahnen sie nicht, welchen Schatz sie eigentlich entdeckten.
Die Hüllen der Mumien bestanden aus mehreren Schichten geleimten Papyrus. Erst in den 1960er-Jahren konnte man die einzelnen Seiten voneinander trennen, ohne sie zu zerstören. Endlich waren die darauf geschriebenen Texte wieder lesbar. Der Papyrologe Colin Austin erkannte darin die Fragmente der verloren geglaubten „Erechtheus“-Tragödie von Euripides.
Das Stück von Euripides wurde wahrscheinlich das erste Mal um 422 v. Chr. im Theater des Dionysos auf der Akropolis aufgeführt. Die tragische Geschichte zeigt, dass das Unglück selbst mit einem großen Opfer nicht abgewehrt werden kann. Praxithea willigt ein, ihr Kind zu Rettung der Stadt zu opfern. Doch am Ende verliert sie drei Töchter und ihren Ehemann Erechtheus, den König von Athen.